Berliner Philharmoniker
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Autor*in: Ralf Bock
ca. 4 Minuten

Hans Scharoun mit einer Zigarette im Mund und einem Notizblock mit Stift in der Hand.
Hans Scharoun | Bild: Archiv Akademie der Künste, Berlin

Am 20. September 2023 wäre Hans Scharoun, der Architekt der Philharmonie Berlin, 130 Jahre alt geworden. Im Oktober wird der »Zirkus Karajani«, wie das Haus der Berliner Philharmoniker lange Zeit im Volksmund genannt wurde, 60 Jahre alt. Kaum zu glauben, denn es ist jung und zeitgemäß geblieben. Eine Hommage an ein Meisterwerk der Architektur.

Bei jedem meiner Besuche kommt Freude auf, sobald ich mich der markanten Silhouette nähere, die aus jeder Richtung ganz anders wirkt und doch unverkennbar ist. Scharoun antwortete einmal auf die Frage, ob er mit der Fassade der Philharmonie zufrieden sei, mit der erstaunten Gegenfrage: »Hat sie eine Fassade?« Er wollte damit ausdrücken, dass er Baukörper in der Stadtlandschaft entwirft. Die Gestalt seiner Bauwerke entsteht aus einem komplexen Zusammenspiel von äußeren und inneren Faktoren. Die Bauwerke sind dabei sowohl auf Fernwirkung im Stadtgefüge als auch auf die Wirkung aus der Fußgängerperspektive einer jeden Straße entwickelt, aus der man sich dem Gebäude nähern kann. So ist die äußere Gesamterscheinung vielschichtig, wie ein kubistisches Gemälde.

Nach dem Betreten des Gebäudes ist man ganz und gar emotional bewegt von den Raumsequenzen des Foyers, verweilt gerne ein wenig, um sich dann mit freudiger Leichtigkeit und betonter Langsamkeit zu seinem Sitzplatz im Großen Saal zu begeben und die Vielzahl der Raumeindrücke zu genießen. Erst auf dem Platz angekommen, fokussiert sich der Blick zur Bühne in die Mitte des Raumes und man kommt in einer angenehm geborgenen Atmosphäre zur inneren Ruhe, um sich ganz der Musik hinzugeben.

Dreamteam: Hans Scharoun und Herbert von Karajan

Der begeisterte Musikliebhaber Scharoun verglich seine Werke immer wieder mit der Musik. Sie sind Symphonien aus Raum, Material, Farbe und Licht, durch die man sich bewegt, die nicht statisch wirken, sondern die ständig neue Raumerlebnisse schaffen.

Der damalige Chefdirigent Herbert von Karajan erkannte diese Qualitäten schon in der Planung, und es kam zu einer starken inneren Verbundenheit zwischen ihm und dem Architekten Hans Scharoun. Dieser Beziehung ist es letztlich zu verdanken, dass die Philharmonie in dieser Qualität ausgeführt werden konnte, gegen alle Widerstände.

Das Konzept der Philharmonie ist mittlerweile auf der ganzen Welt Muster für neue Konzertsäle, etwa für die 2017 eröffnete Elbphilharmonie in Hamburg von Herzog & de Meuron; sie verhehlt auch in ihrer äußeren Gestalt nicht, welchem Vorbild die Architekten gefolgt sind.

»Musik im Mittelpunkt«

Das von Scharoun für die Philharmonie Berlin entwickelte Modell war neu und bis dahin beispiellos, es entstand aus der einfachen Überlegung und Fragestellung nach dem Wesen dieses Gebäudes. Scharoun fasste es in einem kurzen Satz und einer einfachen Skizze zusammen: »Musik im Mittelpunkt.«

Dazu beschrieb er die Vorgänge, die im Inneren des Gebäudes ablaufen, und präzisierte das geistige Konzept, das der Philharmonie innewohnt:

»Es ging darum, einem Konzertsaal – einem Ort also des Musizierens und des gemeinsamen Erlebens der Musik – eine entsprechende Form zu geben.« Nun gibt es dafür genügend Beispiele, die bereits Gestalt angenommen haben.Bei aller Unterschiedlichkeit stimmen sie in einem wesentlichen Punkt überein: Selbst die modernen Konzertsäle halten an der traditionellen Raumaufteilung fest, welche im Prinzip der eines Theaters entspricht.

Das Orchester befindet sich auf der ›Bühne‹, das Publikum sitzt im ›Zuschauerraum‹. Der ›Vorgang‹ jedoch – die entscheidende Überlegung – ist im Konzertsaal ein völlig anderer. Das Schauspiel, die Opera, bedürfen der Bühne – nicht zuletzt des perfektionierten technischen Apparates wegen. Das Orchester hingegen ist auf ein Minimum bühnentechnischer Einrichtungen angewiesen, und der Konzertbesucher ist nur bedingt auch ›Zuschauer‹.

Ein Raum also, in dem Musik gemacht und Musik gehört werden soll, erfordert eine völlig andere Konzeption. Ist es ein Zufall – war die nächste Überlegung –, dass überall, wo improvisiert Musik erklingt, sich Menschen sofort zu einem Kreis zusammenschließen? Diesen ganz natürlichen Vorgang, der von der psychologischen Seite her jedem verständlich ist, müsste man in einen Konzertsaal übertragen – das war nun die Aufgabe, die sich der Architekt gestellt hatte.

Musik sollte auch räumlich und optisch im Mittelpunkt stehen. [...] Trotz der Monumentalität des gesamten Bauwerks war das Ziel der architektonischen Behandlung, im Saal eine gewisse Intimität zu erhalten. Denn erst die Intimität vermag das unmittelbare Teilhaben am Musikgeschehen, die individuelle mitschöpferische Aktivität in Gang zu setzen. Aus dieser Forderung an den Konzertsaal selbst ergab sich folgerichtig auch die Behandlung der zusätzlichen Räume. Sowohl die vorwiegend funktionsbedingten Räume – wie Kleiderablagen, Verkehrsräume und so weiter – als auch die der Entspannung dienenden Räume sind auf flüchtige Benutzung eingestellt, sie dienen der Vorbereitung auf das Musikerlebnis in der Gemeinschaft. So steht das ›Flüchtige‹ in einem Spannungsverhältnis zum ›Verweilenden‹ – zur feierlichen Gelassenheit des im wahrsten Sinne des Wortes das Bauwerk krönenden Konzertsaales.«

»Gestalt finden«

Die akustischen Herausforderungen an den Saal wurden in Zusammenarbeit mit dem Akustiker Lothar Cremer mit Bravour gelöst, aber sie dominieren den Saal nicht, sie ergänzen ihn als selbstverständliche, notwendige Zugabe.

Es entspricht Scharouns Reihenfolge der Arbeitsabläufe, mit dem Wesen der Aufgabe und den geistigen Überlegungen zum Entwurf zu beginnen. Diese werden dann technisch umgesetzt mit allen Anforderungen und planerischen Anpassungen, die auf dem Weg zur Realisierung nötig sind. Dies ist für Scharoun der einzig gangbare Weg, um zu Räumen zu kommen, die dem menschlichen Verhalten und seiner Wahrnehmung entsprechen und die nicht von formalen Zwängen und technischen Vorgaben dominiert sind. Scharoun bezeichnet diesen von ihm entwickelten Entwurfsprozess als »Gestalt finden«.

Es war eine lange Geschichte der Grundstücksfindung und der städtebaulichen Lösung am jetzigen Standort direkt an der Mauer im damals geteilten Berlin. Die Philharmonie sollte ein Zeichen für ein gemeinsames, ungeteiltes Berlin sein. Im Westteil der Stadt in Randlage, südlich des Tiergartens, gleichzeitig aber direkt im historischen Zentrum in Berlin-Mitte in unmittelbarer Nähe des Potsdamer Platzes im damaligen Ostteil.

Ganz im Sinne von Hugo Härings Botschaft: »Bauen hat immer eine politische Aussage«, stehen die Philharmonie und die Staatsbibliothek für die Zuversicht der Überwindung der deutschen Teilung und für die freie, offene und friedvolle Gesellschaft. Es sind Gebäude der Gemeinschaft, deren Foyers Fortführungen des Außenraums sind und die zum immerwährenden Betreten einladen.

Scharoun schuf weitere Prototypen für öffentliche Gebäude. Dazu gehören zwei Schulen in Marl und Lünen, das Deutsche Schifffahrtsmuseum in Bremerhaven, ein Institutsgebäude für die Architekturfakultät der Technischen Universität Berlin, ein Theater und ein Kindergarten in Wolfsburg. Sie alle basieren auf denselben Entwurfsprinzipien und Merkmalen.

Und sie alle verbinden nicht nur geistige, sondern auch formale Parallelen. Bei der Ausgestaltung der Räume ist Scharoun eher zurückhaltend in der Detaillierung; er zeigt zuweilen das tragende Material wie Stahlbeton oder Ziegel als Sichtflächen, lässt das Konstruktive aber nicht zu sehr in den Vordergrund treten, sondern bindet es in die Gestaltung ein.

Grundsätzlich sind die Struktur und die Konstruktion des Gebäudes Teil des Ganzen. Sie sollen den Bau nicht dominieren, sondern sich in sein wahrnehmbares Erscheinungsbild eingliedern. Scharoun vermeidet es daher, seine öffentlichen Bauten nach einem Konstruktionsraster auszurichten. Ihnen fehlt der damals obligatorische, orthogonale Stützenraster, der so viele öffentliche Gebäude der Nachkriegszeit charakterisiert und in ihrem Entwurfsprozess eine entscheidende Gestaltungsgrundlage war.

Fenster wie in einer Kathedrale

Ein wichtiges Element ist die Anordnung der Fenster und Oberlichter und deren Verglasung. Scharoun verwendet Fenster klassisch als Sichtverbindung mit dem Außenraum, wobei er zwischen Fenstern unterscheidet, die einen Blick in die Umgebung oder in den Himmel freigeben. Dazu gibt es Lichtöffnungen, die nur Licht tief in die Räume streuen, zum Teil als farbiges Licht, wie in einer Kathedrale.

Ein anderes wichtiges Gestaltungselement sind die Dächer: Sie fungieren als Dachlandschaft einer Stadt und als Teil der Topografie. Zugleich ermöglichen die Dachräume den Nutzerinnen und Nutzern aber auch im Inneren ein besonderes Raumerlebnis. Daher verwendet Scharoun bei Versammlungsräumen zeltartige Dächer, die dem Innenraum einen Ausdruck verleihen, der den Menschen ein Gefühl von Leichtigkeit, Schutz, Geborgenheit und geistiger wie seelischer Entwicklungsmöglichkeit vermittelt. Zur Bedeutung der Dachform für den Menschen und für die Stadtlandschaft bezog sich Scharoun in seinen Schriften immer wieder auf den traditionellen chinesischen Städtebau und auf den europäischen Städtebau von der Gotik bis zum Barock.

Die gebaute Umwelt erzeugt in uns Stimmungen, die wir ständig aufnehmen. Selten tun wir das bewusst, und oft ist es für uns schwierig, die Gefühle, die sie in uns auslöst, zu artikulieren. Es gibt Orte, die wir gerne aufsuchen und andere, die wir zu meiden versuchen. Dieser emotionale Einfluss der gebauten Umwelt auf unser Befinden ist immer vorhanden, vergleichbar mit Musik, nur diese umgibt uns nicht ständig.

Die Qualität der gebauten Umwelt an diesen Empfindungen und Wahrnehmungen zu messen, ist für uns nicht leicht. Dies ist einer der Gründe, weshalb die Anerkennung von Scharouns architektonischen und gesellschaftlichen Thesen manchem seiner Zeitgenossen schwerfiel.

Bauen für das Gemeinwohl

Sein humanistisches Menschenbild vom gestärkten Individuum, das sich aktiv in die Gesellschaft einbringt und sich auch für das Gemeinwohl engagiert, sowie sein ganzheitliches Denken prägten seine Architektur. Für das Wohlbefinden der Menschen zu bauen und den Nutzern Möglichkeiten zu schaffen, um gemeinschaftliche Aktivitäten zu gestalten, war sein oberstes Ziel. Diese Qualität spürt man in seinen Werken bis heute. Sie sind wichtige Zeugnisse, die uns zeigen, was das Bauen nachhaltig macht und wie bedeutungsvoll unsere gebaute Umwelt für unser Leben ist.

Scharouns hohe Anforderungen an das Gestalten von öffentlichen Bauten sind bis heute aktuell, sie können in unveränderter Form als Leitlinien gelten. Sie gehen weit über rein funktionale Kriterien hinaus, die man aus Sicht von Scharoun ohnehin erfüllen muss bei der Errichtung eines Bauwerks. Der Wert eines Gebäudes liegt für ihn im »Geheimnis der Gestalt«, dem Geist, den der Architekt dem Gebäude durch seine Konzeption mitgibt und der über Generationen spürbar bleibt.

Scharoun setzte sein ganzes Können und Engagement ein, um mit seinen öffentlichen Bauten neue Gebäudetypen zu schaffen zur Stärkung der jungen Demokratie im Nachkriegsdeutschland. Ein Rückfall in barbarische Zeiten eines NS-Regimes, bei dem der Einzelne nur ein Teil der Masse sein durfte, sollte nicht mehr passieren. Mit den Worten von Scharouns Mitstreiter und Freund Adolf Arndt könnte man resümieren: »Eine Demokratie ist nur so viel wert, wie sich ihre Menschen wert sind, dass ihnen ihr öffentliches Bauen wert ist.«